Die Reblaus und die Versuchsstation für amerikanische Reben in Twann
Veröffentlicht am Montag, 18. Mrz 2024
Zurück zum BlogSeit ihrem ersten Auftreten im Westen Frankreichs in den 1860er Jahren breitete sich die aus den USA eingeschleppte Reblaus in Europa aus. Auf ihrem Weg nach Osten trat sie 1873 erstmals in der Schweiz, in der Genfer Gemeinde Pregny, auf. 1905 erreichte sie dann in Le Landeron den Bielersee. 1913 wurde die Reblaus in den Friesen (Schafis), 1917 unterhalb der Festi (Ligerz) und 1920 in der Unteren Roggete in Tüscherz entdeckt.
Die Reblaus (Phylloxera vastatrix) hat einen komplizierten Lebenszyklus mit verschiedenen Stadien von Blattlaus, Fliege, Nymphe, Larve, Eier und Wurzellaus. Die oberirdisch lebende Blattreblaus ist für den Rebstock nur bei sehr starkem Befall lebensbedrohend, schlimm ist jedoch die Wurzelreblaus, die die Pflanzenwurzel aussaugt. In der Folge stirbt der Rebstock ab.
Der echte Mehltau (Oïdium) und der falsche Mehltau (Peronospora; Plasmopara viticola) waren nur wenige Jahre vor der Reblaus ebenfalls aus den USA nach Europa eingeschleppt worden. Krankheiten und Schädlinge und nass-kalte Jahre bedrohten den europäischen Rebbau von Grund auf. Die Gefahr und der unaufhaltsame Vormarsch des Schädlings zwangen die in ihrer Existenz bedrohten Winzer zum raschen Handeln. Eine internationale Konferenz zur Bekämpfung der Reblaus fand 1878 in Bern statt. Die Konferenz verabschiedete eine europäische Reblauskonvention. Bund, Kantone und Gemeinden wurden aktiv. Für den Kanton Bern wurde 1899 Fritz Cosandier aus Schafis zum Reblauskommissär gewählt. 1907 wurde das kantonale Reblausgesetz in einer Volksabstimmung angenommen und ein kantonaler Rebbaufonds konnte eingerichtet werden. Aus diesem Fonds wurden Erneuerungsbeiträge und Ausfallentschädigungen an die Weinbauern ausbezahlt.
«Kränkelt ein Weinstock so, dass seine Blätter sich verfärben, verdorren, die Jahrestriebe an den Spitzen absterben; lassen sich etwa bei Untersuchung der Wurzeln, die sofort vorzunehmen ist, knotenförmige Verdickungen und daran winzige, kaum mohnkörnchengrosse gelbliche Läuse erkennen, so haben wir den schlimmsten Feind unserer edelsten Nutzpflanze, die Reblaus vor uns.»
So schreibt Heinrich Freiherr von Schilling 1899 über die Reblaus. Früh wurden deshalb Versuche unternommen, um der Reblaus Herr zu werden: Die befallenen Rebparzellen wurden so gut wie möglich isoliert und die Reblaus chemisch bekämpft: Mit grossen, schweren Injektionsspritzen wurde Schwefelkohlenstoff in die befallenen Rebböden gespritzt. Eine arbeitsintensive, (feuer-)gefährliche und teure Arbeit.
Eine biotechnische Methode zur Bekämpfung der Laus war und ist die Veredelung von Rebstöcken. Die Veredelung von Obst ist bereits seit der Antike bekannt. Nachdem man jedoch herausgefunden hatte, dass amerikanische Weinreben den Reblausbefall ihrer Wurzeln überlebten, kam die Veredelung im ausgehenden 19. Jahrhundert zu neuer Bedeutung. Im grossen Stil wurden amerikanische Unterlagsreben importiert, auf die man die gewünschten europäischen Edelsorten aufpfropfte.
Auch am Bielersee fürchtete man sich vor der unvermeidlichen Invasion der Reblaus. Die Rebgesellschaft verabschiedete deshalb an der Generalversammlung von 1901 ein Regulativ für eine Versuchsanstalt für amerikanische Reben in Twann. Diese Versuchsanstalt musste vom Kanton genehmigt und konzessioniert werden. 1902 wurde erstmals amerikanisches Unterlagenholz aus Frankreich importiert und desinfiziert, so dass 1903 bereits über 10’000 einjährige, veredelte Rebstöckli aus Twann abgegeben werden konnten – dies bevor die Reblaus überhaupt in unserem Gebiet angekommen war. 1906 beschloss die Rebgesellschaft die eigene «Errichtung eines Pfropflokals und Erweiterung der Pflanzschule im Moos zu Twann». Bis Ende Juni 1907 war das Pfropfhaus einzugsbereit.
Nun begann eine intensive Produktion von veredelten Rebstöckli. Auch die Vignerons in La Neuveville errichteten ein Pfropflokal, um die grosse Nachfrage nach veredelten Reben zu decken. Im Stundenlohn arbeiteten die Rebbauern im Pfropfhüsli, im Winter beim Zuschneiden des Rebholzes und Veredeln der Rebstöcke, im Frühling und Sommer beim Setzen und Pflegen der Reben auf den Versuchsfeldern im Moos zwischen Pfropfhüsli und Bahnhof Twann.
Der erste Direktor der Versuchsanstalt Eduard Louis führte während seiner Amtszeit akribisch Buch über die Anzahl der Pflanzen, die abgegeben, gesetzt und allenfalls ersetzt werden mussten. Von 1903 bis 1929 wurden über 1,2 Mio. Stöckli hergestellt und an die Rebbesitzer in Neuenstadt, Ligerz, Twann und Tüscherz-Alfermée abgegeben. Auch Ins, Erlach, Biel, Gampelen, Brüttelen, Lüscherz, Pieterlen, Bühl, Gäserz und Spiez wurden mit veredelten Rebstöcken beliefert. Bis 1929 konnten über 4100 Parzellen mit neuen Rebstöcken bepflanzt (rekonstituiert) werden.
Auch die verwendeten amerikanischen Unterlagen wurden säuberlich notiert. In seinem Bericht von 1913 führt Eduard Louis neun verschiedene amerikanische Wurzelhölzer auf, die auf ihre Eignung getestet wurden, ging es doch darum, die für die verschiedenen Böden geeigneten Unterlagen zu finden und Erfahrungen zu sammeln, die bislang fehlten. Zu diesem Zweck wurde auch der Kalkgehalt der jeweiligen Rebparzelle gemessen. Einige der damals getesteten Unterlagen werden heute noch verwendet, so die Vitis Riparia x Vitis Berlandieri oder die Vitis Riparia x Vitis Rupestris (RR3309).
Die Pfropftätigkeit der Rebgesellschaft in Twann wurde ab 1935 ins neu errichtete Rebhaus (Haus des Bielerseeweins) verlegt und bis in die 1980er Jahre weitergeführt. Die Veredelung wurde dann von spezialisierten Rebschulen übernommen, aber auch heute werden bei Neuanpflanzungen ausschliesslich veredelte Rebstöcke verwendet.